Montag, 14. Mai 2018

Alpine Wüstungsforschung im Berner Oberland

Rezension von Anne-Sophie Ebert 

Brigitte Andres

Alpine Wüstungen im Berner Oberland.
Ein archäologischer Blick auf die historische Alpwirtschaft in der Region Oberhasli

Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie 42
Basel : Schweizerischer Burgenverein
2016

364 Seiten, 187 Abbildungen
Ladenpreis: 68,00 €
ISBN 978-3908182269



Die Archäologie in den Alpen und nicht zuletzt auch die alpine Wüstungsforschung fanden in den letzten ca. 20 Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung. Ein Anstoß dafür mag die Auffindung der als "Ötzi" bekannten Eisleiche am Tisenjoch im Ötztal im Jahr 1991 gewesen sein. Ein weiterer Grund für eine vermehrte Forschungstätigkeit liegt im Klimawandel begründet, aufgrund dessen im Hochgebirge für den Skitourismus immer höher gelegene Pisten erschlossen und somit Bodeneingriffe vorgenommen werden.


Auch im Berner Oberland, in der Region Oberhasli, wurde 2003 eine Zusammenlegung mehrerer Skigebiete zu einem "Schneeparadies Hasliberg-Frutt-Titlis" geplant, sodass der Archäologische Dienst des Kantons Bern unter der Leitung von Daniel Gutscher mehrere Prospektionskampagnen (2003, 2004 und 2006) vornahm, um gefährdete Befunde in diesem Gebiet zumindest zu kartieren.
Ähnliche Projekte werden in der Schweiz in letzter Zeit häufiger durchgeführt (s. z.B. die Prospektionskampagnen im Muotatal SZ, die von Franz Auf der Maur, Walter Imhof und Jakob Obrecht ausgewertet und publiziert worden sind). Für den österreichischen Alpenraum liegen insgesamt weniger Untersuchungen vor, aber auch hier werden, gerade durch die Tätigkeiten des Vereins für Alpine Forschung (ANISA) immer mehr Kampagnen und interdisziplinäre Auswertungen realisiert (s. z.B. Weishäupl 2014 oder die Reihe "Forschungsberichte der ANISA").
Die knapp 400 im Oberhasli neu entdeckten Hinweise auf alpine Wüstungen und Alpwirtschaft wertet Brigitte Andres nun in diesem Band (ihrer Dissertation) aus. Dabei geht sie vor allem der Fragestellung nach, wie und ob man die Befunde in den Kontext der bisherigen Wüstungsforschung in der Schweiz einbetten und mit Befunden anderer Regionen vergleichen kann. Ein weiteres wichtiges Ziel der Arbeit ist es zudem Hinweise auf alpwirtschaftliche Tätigkeiten wie Milchverarbeitung, Viehhaltung und Wildheunutzung im archäologischen Befund zu finden.

Im ersten Teil des Buches stellt die Autorin gleich zu Beginn die Problematik des Forschungsstandes klar. In den letzten Jahren, nach mehreren Grabungskampagnen in den 1970er Jahren (s. Werner et al. 1998), ist immer mehr von tatsächlichen Grabungen im Hochgebirge abgesehen worden. Vor allem ist es schwierig, sowohl die Grabungsmannschaft, als auch das benötigte Material an die meist entlegenen Grabungsstellen, die oft auch über keinen Anschluss an moderne Wegenetze verfügen, zu bringen. Darum wurde ein stärkerer Fokus auf Prospektionsprojekte gelegt. Dies zieht zwei Probleme nach sich: Erstens sind durch fehlende Untersuchungen der Innenstruktur von Alpgebäuden Funktionen derselben nur schwer zu bestimmen und zweitens fehlt es der Forschung an zeitlicher Tiefe, da genauere Datierungen bei Prospektionen nicht möglich sind (S. 29f.). In den drei Tälern des Untersuchungsgebietes kommen Alpwüstungen wahrscheinlich häufiger ab dem 14. Jh. vor, meist können die festgestellten Strukturen allerdings höchstens bis in das 16. Jh. (z.B. anhand von Bauinschriften) zurückdatiert werden (S. 30).
Im Folgenden gibt die Autorin mit dem Kapitel "Naturraum und Geschichte der Region Oberhasli" (S. 33) einen Überblick über Klima und Naturgefahren im Untersuchungsgebiet, welcher gut zum Verständnis der naturräumlichen Bedingungen beiträgt. Die detaillierte Beschreibung von Pässen vermittelt die Kenntnis der Verkehrswege und der Handelskapazität der Täler im Oberhasli. Zudem geht sie kurz auf Landwirtschaft, Handel, Eisenbergbau, Fremdenverkehr und Wasserkraftnutzung in der Region ein, sodass dem Leser ein eindrückliches Gesamtbild der Umwelt und der Kulturlandschaft im Oberhasli gegeben wird.

Nach diesem einleitenden Teil folgt im zweiten Teil das eigentliche Kernstück der Arbeit (S. 63-200). Vor der Beschreibung und Einordnung der eigentlichen archäologischen Befunde, erfolgt die Betrachtung der Alpwirtschaft im Oberhasli anhand von nichtarchäologischen Quellen. Hier bezieht sich die Autorin vor allem auf Rechtsquellen, Alpstatistiken, topographische Beschreibungen der oekonomischen Gesellschaft Bern und auf alte Reiseberichte und legt somit den Fokus auf einen wichtigen interdisziplinären Ansatz. Erkenntlich wird, dass wahrscheinlich zwischen dem 15. und 16. Jh. ein Wandel in der Alpwirtschaft stattfand, da Viehweiden wohl zunehmend dem Großvieh vorbehalten wurde, ab Ende des 14. Jh. eine Tendenz zur gemeinschaftlichen Verwaltung von Alpen, Allmenden und Wäldern zu erkennen ist und ab 1600 ein zunehmender Export von Käse in die Städte Norditaliens belegt ist (S. 68-76). Allerdings fanden sich wohl nur sehr wenige Beschreibungen von eigentlichen Alpgebäuden, weshalb ein Vergleich mit den archäologischen Befunden schwierig bleibt. Eventuell hätte hier noch eine verstärkte Betrachtung von noch bestehenden Alpgebäuden geholfen auch am archäologischen Material einzelne Funktionsbereiche vergleichend zu erkennen.
Im Kapitel "Wüstungsforschung im Oberhasli" (S. 89) wertet Andres schließlich die eigentlichen Befunde der Prospektionskampagnen aus. Zunächst teilt sie die Befunde in Kategorien ein. Dies vermittelt einen Eindruck, wie vielfältig die Befunde tatsächlich sind (das Spektrum reicht von Gebäudegrundrissen und Konstruktionen unter Fels über Pferche und Weidemauern bis hin zu Wegabschnitten und Hinweisen auf Erzabbaustätten). Die einzelnen Befundkategorien sind meist noch wie im Fall der Konstruktionen unter Fels in weitere Untergruppen nach Erscheinungsmerkmalen unterteilt. Durch in den Text eingebaute Tafeln, auf denen Andres signifikante Beispiele für jeweils eine Befundkategorie abbildet, werden dem Leser die unterschiedlichen Ausprägungen der Befunde innerhalb der Befundgruppen besonders deutlich (z.B. Abb. 91, S. 125). Hilfreich sind auch die dabei stets aufgeführten Katalognummern, um die einzelnen Beispiele im Befundkontext im sehr übersichtlichen und anschaulich gestalteten Katalog wiederfinden zu können. 

Im Anschluss beschreibt Andres die einzelnen Wüstungsplätze in ihrer Gesamtheit und im Kontext des Fundgebietes. An dieser Stelle wird der Leser systematisch an das Siedlungsgefüge der Alpwüstungen und mägliche Problematiken herangeführt. So wird deutlich, dass sowohl bei größeren, als auch bei kleineren Siedlungsplätzen die Anordnung der einzelnen Strukturen stark von den topographischen Gegebenheiten im Gebirge abhängig sind und somit jeweils individuelle Ausprägungen erscheinen, die kaum einheitlich dargestellt oder kategorisiert werden kännen (S. 168). Dies bedeutet im Umkehrschluss wiederum eine erschwerte Zuordnung von Funktionsbereichen zu einzelnen Siedlungselementen.

An dieser Stelle soll durch die kurze Vorstellung zweier Beispiele die Problematik beleuchtet werden:

Beispiel 1: Wüstungen Hinder Tschuggi (Hasliberg BE):

Die Strukturen bei Hinder Tschuggi sind weit im Areal verstreut errichtet worden. Die meisten erhaltenen Grundrisse sind einräumig, es liegen aber auch zweiräumige Strukturen und sogar drei mehrräumige Strukturen vor. Närdlich der heute bestehenden Alpgebäude schließen sich "Tschugginollen" genannte Felsformationen an, in denen des Weiteren Konstruktionen unter Fels festgestellt werden konnten.
Ob diese weit verstreuten Gebäude gleichzeitig oder nacheinander in Betrieb waren oder ob es Spezialisierungen auf unterschiedliche Käseherstellungen gab, kann aufgrund der fehlenden Datierungen und Untersuchungen der Innenräume leider nicht mit Sicherheit gesagt werden (S. 146-148).






Beispiel 2: Wüstung Wendenläger 1 (Innertkirchen BE):

Bei Gadmen befindet sich die Wüstung Wendenläger 1. Am Rand einer Geröllhalde sind hier ein etwas größerer einräumiger Grundriss an einem Felsblock zu erkennen und südlich dicht daran anschließend mehrere kleine, teilweise sogar annähernd runde Strukturen, die eventuell auf weitere kleinere Gebäude oder Lagerräume hinweisen kännen.
Die heutigen Alpgebäude wurden südlich dieser Wüstung in etwas flacherem Gebiet errichtet, befinden sich daher aber auch in einer exponierteren Lage, aufgrund dessen zum Hang hin Lawinenkeile künstlich aufgeschichtet werden mussten (S. 160-164 und S. 204).










Sinnvollerweise zieht die Autorin, auch aufgrund fehlender Grabungen im Oberhasli, andere Quellen aus dem gesamten Schweizer Alpenraum zur Interpretation von Funktionen der beschriebenen Strukturen im folgenden Kapitel "Kulturhistorische Einordnung" (S. 171) heran. Besonders bezieht sie sich auf den 1998 erschienenen Band "Heidenhüttli" von Werner Meyer, der ein umfassendes Bild der alpinen Wüstungsforschung in der Schweiz bis in die 1990er Jahre vorstellt und in dem auch noch tatsächliche Grabungen in alpinem Gelände ausgewertet werden. Aber auch die Ergebnisse aus dem vorangestellten Abschnitt zu den nichtarchäologischen Quellen fließen in diesem Kapitel in die Bewertung der Befunde mit ein.

An dieser Stelle geht es Andres vor allem darum, ob Wirtschaftsweisen auch im Oberhasli am archäologischen Befund erkennbar sind oder nicht. So kommt sie zu dem Ergebnis, dass generell Viehhaltung, anhand von Pferchen, Ställen und Weidemauern zunächst leichter zu erkennen ist, als die Milchverarbeitung. Hier tritt erneut die Problematik der fehlenden Grabungen in den Vordergrund.
Da keine gesicherten Aussagen über die Innenstrukturen von Gebäuden gemacht werden kännen, sind Sennereien, die anhand von Feuerstellen erkennbar wären, nur in sehr wenigen Fällen zu identifizieren. Auch bei Konstruktionen unter Fels kann die Funktion nicht immer eindeutig bestimmt werden. Daher schlie§t Andres in ihrer Interpretation vielfach über die Grä§e der Strukturen auf mägliche Funktionen der Gebäude.
Allerdings versucht Andres zumindest die Fragen zur Art der Milchwirtschaft trotzdem zu beantworten. Hier geht es um die Diskussion ob die eigentliche Käseherstellung am Befund zu erkennen ist. Für die Vollfettkäserei ist kein direkter Kühlraum notwendig, da die Milch nicht zum Abrahmen gelagert wird. Abrahmen bedeutet, dass die Milch vor der Verarbeitung zum Käse gelagert wird, sodass der Rahm sich absetzen und entnommen werden kann, um zum Beispiel Butter daraus herzustellen.
Das Phänomen, dass im Oberhasli auch bis weit in die Neuzeit hinein, anders als in anderen Regionen der Schweiz, noch einräumige Alpgebäude genutzt wurden, deutet Andres mit Hilfe der historischen Quellen als einen Hinweis dafür, dass Vollfettkäserei, für die keine Kühlräume in der eigentlichen Sennerei notwendig waren, noch viel länger als in anderen Regionen der Schweiz praktiziert wurde. Auch den in den Schriftquellen oft zu fassenden Buttermangel in den Städten führt Andres auf eine schwerpunktmä§ige Vollfettkäserei im Oberhasli zurück.
Dies ist zunächst nicht von der Hand zu weisen, widerspricht sich jedoch teilweise mit den Rückschlüssen, die sie selbst im Folgenden aufstellt. Denn es sind doch Ð wenn auch wenige Ð zwei- oder mehrräumige Gebäudegrundrisse vorhanden (s. das Beispiel Hinder Tschuggi). In ihrer Synthese interpretiert Andres diese als "frühe Formen einer Sennerei mit Milchkeller" (S. 203). Zudem führt sie selbst auch die Mäglichkeit an, dass Konstruktionen unter Felsen ebenfalls als Kühlraum genutzt wurden (z.B. S. 174), was wiederum auch auf das Abrahmen und die Herstellung von Butter hindeuten kännte. Dass solche künstlich erschaffenen oder natürlichen "Höhlen" für die Milchlagerung tatsächlich genutzt wurden, konnte auch bei Forschungen im Muotatal SZ erwiesen werden (s. Auf der Maur et al. 2005).
Insgesamt ist der Rückbezug des Kapitels "Kulturhistorische Einordnung" auf das Kapitel "Alpwirtschaft im Spiegel nichtarchäologischer Quellen" jedoch sehr gelungen. Durch die Einordnung der eigentlichen Befundbeschreibungen zwischen diesen beiden Kapiteln wird das Material interdisziplinär eingerahmt, es steht nicht einfach im Raum. Auch der Vergleich der Befunde nicht nur mit regionalen historischen Quellen, sondern mit archäologischen und historischen Quellen aus anderen Regionen der Schweiz hilft bei der genauen Einordnung der Befunde aus dem Oberhasli in die alpine Wüstungsforschung insgesamt.

In ihrer Schlussbewertung geht Andres noch einmal auf die Forschungsproblematik ein und plädiert für eine vermehrte Institutionalisierung der alpinen Archäologie in der Schweiz um Grabungsprojekte wieder verstärkt zu fördern. Dies ist wohl im Endeffekt die einzige Möglichkeit gesicherte Aussagen über das sonst schwer zu datierende Befundmaterial zu tätigen, wie Andres selbst in ihren Analysen stichhaltig beweist.
Besonders hervorzuheben ist schlussendlich die vorbildlich ausgeführte interdisziplinäre Betrachtung der Befunde und die Darstellung der alpinen Wüstungsforschung "als Schnittstelle von Archäologie, Geschichte, Volkskunde, Bauernhausforschung und Denkmalpflege" (S. 205). Zu ergänzen wäre eventuell noch, dass auch naturwissenschaftliche Methoden aus der Bioarchäologie, GIS zur Rekonstruktion von Weideflächen (s. Štular 2010) oder Daten aus Geoarchiven genutzt werden könnten und müssten, um ein annähernd vollständiges Bild der Nutzung der Alpen durch den Menschen - nicht nur in Mittelalter und Neuzeit - zu erlangen.

Der Band stellt somit eine wichtige Publikation für die weitere Forschung dar. Zwar handelt es sich um die Auswertung von regionalen Entwicklungen der Alpwirtschaft, aber durch die interdisziplinäre Herangehensweise und die Berücksichtigung aller Befundarten auch im Vergleich über das Berner Oberland hinaus schafft die Autorin es, die Befunde überregional einzuordnen. Wichtig sind auch ihre Analysen zur Sichtbarkeit der Wirtschaftsweisen im archäologischen Befund. Teilweise ist dies schon bei anderen Forschungen durchgeführt worden (s. z.B. Meyer et al. 1998), verdient insgesamt aber einen noch stärkeren Fokus in der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, vor allem auch über die Schweiz hinau. Die Ansätze, die hier von Andres erbracht werden, können somit als Diskussionsgrundlage dienen.

Literaturhinweise


  • Auf der Maur et al. 2005:
    F. Auf der Maur / W. Imhof / J. Obrecht, Alpine Wüstungsforschung, Archäozoologie und Speläologie auf den Alpen Saum bis Silberen, Muotatal SZ, Mitteilungen des historischen Vereins des Kantons Schwyz 97, 2005, S. 11-74.
  • Meyer et al. 1998:
    W. Meyer et al., "Heidenhüttli". 25 Jahre archäologische Wüstungsforschung im schweizerischen Alpenraum, Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 23/24, 1998.
  • Štular 2010:
    B. Štular, Medieval High-Mountain Pastures in the Kamnik Alps (Slovenia): Mittelalterliche Almen in den Steiner Alpen (Slowenien), In: F.Mandl / H. Stadler (Hrsg.), Archäologie in den Alpen. Alltag und Kult, Forschungsberichte der ANISA 3, Nearchos 19, 2010, S. 259-272.
  • Weishäupl 2014:
    B. Weishäupl, Anthropogene Strukturen in den närdlichen Stubaier Alpen. Bericht über die Prospektionen von 2008 bis 2011, ANISA FB I. 10, 2014
  • Website des Vereins für Alpine Forschung (ANISA): http://www.anisa.at/index-2.htm




Anne-Sophie Ebert studiert Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Bamberg und arbeitet zurzeit an ihrer Masterarbeit über die frühmittelalterlichen Siedlungsbefunde in Neuwied-Gladbach. Ihren Bachelorabschluss in Archäologischen Wissenschaften, mit einem Schwerpunkt in Ur- und Frühgeschichtlicher Archäologie, absolvierte sie in Bochum.

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